Im vergangenen Dezember jährte sich die Reform- und Öffnungspolitik Chinas zum 40. Mal, die unter der Führung von Deng Xiaoping auf dem dritten Plenum im Jahr 1978 eingeleitet wurde.
Diese Politik leitete die Umwandlung Chinas von einer armen und unterentwickelten Planwirtschaft in ein wirtschaftliches Kraftzentrum ein, das zunehmend vom Markt bestimmt wird.
Das Jubiläum wurde jedoch von den aktuellen Herausforderungen der chinesischen Wirtschaft und der Unsicherheit über die Richtung der Wirtschaftsreformen überschattet.
Im Jahr 2018 wuchs Chinas Wirtschaft so langsam wie seit 1990 nicht mehr, und das Land wurde in einen Handelskrieg mit den USA verwickelt. Gleichzeitig ist die Wirtschaft an einem Punkt angelangt, an dem das etablierte Wachstumsmodell nicht mehr haltbar ist.
An diesem Scheideweg in der wirtschaftlichen Entwicklung Chinas stellen wir die Frage, in welche Richtung die Reformen gehen?
Chinas Reform- und Öffnungspolitik
Die Reform- und Öffnungspolitik Chinas führte Privatwirtschaft und Marktanreize in das ehemals staatlich geführte kommunistische System ein. Vor 1978 war der Privatsektor praktisch nicht existent; heute tragen private Unternehmen zu etwa 70 % des chinesischen BIP bei.
Um an diesen Punkt zu gelangen, hat China in den letzten 40 Jahren sein Wirtschaftssystem grundlegend verändert. Trotz des Umfangs der Veränderungen waren Chinas Wirtschaftsreformen jedoch durch Gradualismus und Experimentierfreudigkeit gekennzeichnet, oder wie Deng einmal sagte: „Den Fluss überqueren, indem man die Steine ertastet“.
Sonderwirtschaftszonen (SWZ) waren ein typisches Beispiel für diesen Gradualismus und Experimentierfreudigkeit, in denen die Regierung neue Reformen in geografisch abgegrenzten Gebieten erprobte.
Keine Region in China verkörpert den Erfolg dieser Strategie besser als Shenzhen, das an der Spitze der Reform- und Öffnungsinitiativen stand und sich von einem winzigen Fischerdorf zu einer der reichsten und dynamischsten Städte des Landes entwickelte.
Auch wenn der Markt durch die Reformen eine wichtigere Rolle bei der Ressourcenverteilung erhielt, spielt der Staat 40 Jahre später immer noch eine starke Rolle.
In dieser Hinsicht ist Chinas Entwicklungs- und Reformweg einzigartig und wird manchmal als das „chinesische Modell“ der Entwicklung bezeichnet. Bis heute wird darüber diskutiert, ob sich China aufgrund der anhaltenden Rolle des Staates in seiner Wirtschaft oder trotz dieser Rolle entwickelt hat.
Diese Debatte ist wichtig, da sie die zukünftige Richtung der Reformen bestimmt. Klarer ist, dass die Reform- und Öffnungspolitik insgesamt als Erfolg gewertet wird.
In den 40 Jahren sind 740 Millionen Menschen der Armut entkommen, und das Land verzeichnete eine lange Periode zweistelligen Wirtschaftswachstums.
China ist heute nach den USA die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt und zählt zu den Ländern mit mittlerem Einkommen (MICs) der Weltbank, gemessen am Pro-Kopf-BNE.
Herausforderungen und weitere Reformen
Trotz der Erfolge der chinesischen Wirtschaft hat sie in den letzten Jahren Schwachstellen gezeigt und ist in eine kritische Phase für ihre weitere Entwicklung und Reform eingetreten.
Das Wirtschaftswachstum hat sich gegenüber den früheren zweistelligen Raten verlangsamt, was als „neue Normalität“ bezeichnet wird, da die Wirtschaft des Landes reifer wird.
Im Jahr 2018 wuchs das chinesische BIP laut offiziellen Statistiken um 6,6 Prozent, und die Führung in Peking hat das Wachstumsziel für 2019 auf 6-6,5 Prozent gesenkt. Viele Ökonomen argumentieren, dass das tatsächliche Wachstum deutlich unter diesen offiziellen Zahlen liegt.
Ökonomen innerhalb und außerhalb Chinas haben die Führung des Landes aufgefordert, Strukturreformen durchzuführen, damit sich das Land weiter entwickeln und die gefürchtete „Falle des mittleren Einkommens“ vermeiden kann.
Die Falle des mittleren Einkommens liegt vor, wenn eine Wirtschaft so weit entwickelt ist, dass sie ihre Niedrigkostenvorteile verliert, aber nicht weit genug entwickelt ist, um zu einer höherwertigen, wissensbasierten Wirtschaft überzugehen, so dass sie zu einer mittleren Leistung abrutscht.
Während fast alle Analysten darin übereinstimmen, dass China weitreichende Wirtschaftsreformen durchführen muss, um seine Wirtschaft langfristig aufrechtzuerhalten, herrscht Uneinigkeit darüber, was genau diese Reformen beinhalten sollten.
Liberale Ökonomen argumentieren, dass China mehr marktorientierte Maßnahmen ergreifen sollte, z.B. durch die Reduzierung der Rolle staatlicher Unternehmen und marktverzerrender Unterstützung in der Wirtschaft.
Andere, die eine eher statistische Sichtweise vertreten, argumentieren, dass China die Subventionen für strategische Industrien erhöhen und einheimische Firmen schützen sollte, um deren Entwicklung zu fördern.
Auf dem dritten Plenum 2013, 35 Jahre nach dem Beginn von Dengs Reformen, hat sich die Kommunistische Partei unter der Führung von Präsident Xi Jinping entschlossen zu weiteren Reformen bekannt.
Auf dem Plenum wurde ein 60-Punkte-Plan mit dem Titel „The Decision on Major Issues Concerning Comprehensive Deepening Reforms“ veröffentlicht. Einer der wichtigsten Beschlüsse sieht vor, „dem Markt eine entscheidende Rolle bei der Ressourcenzuteilung zuzugestehen“, was eine Präferenz für marktbasierte Maßnahmen zu signalisieren scheint.
Eine größere Rolle für den Markt seit 2013
Seit dem dritten Plenum 2013 wurde dem Markt in einigen Bereichen eine entscheidendere Rolle eingeräumt.
So wurden beispielsweise die Beschränkungen für ausländische Direktinvestitionen (ADI) gelockert, da China von einem genehmigungsbasierten System zu einem auf einer Negativliste basierenden System übergegangen ist.
Dieses neue System ermöglicht es, dass die meisten ausländischen Direktinvestitionen ohne Prüfung durch die Regierung getätigt werden können, außer in Bereichen, die auf der Negativliste stehen. Im Laufe der Zeit wurde auch der Umfang dieser Negativliste reduziert.
Direktinvestitionen sind wichtig für die Entwicklung Chinas, da sie eine Schlüsselrolle bei der Steigerung der industriellen Wertschöpfung spielen. So entfielen 2016 beispielsweise 77 Prozent der gesamten Hightech-Exporte Chinas auf Unternehmen mit ausländischer Finanzierung.
Die Beschränkungen für ausländische Direktinvestitionen wurden für Unternehmen, die in Freihandelszonen (FTZ) investieren, noch weiter gelockert. Die Freihandelszonen wurden erstmals 2013 eingerichtet und folgen dem Geist von Dengs Gradualismus und Experimentierfreudigkeit, indem sie es ermöglichen, Reformmaßnahmen zu testen, bevor einige von ihnen landesweit eingeführt werden.
Die Reformen zur Handelserleichterung, denen China durch die Ratifizierung des WTO-Handelserleichterungsabkommens im Jahr 2015 Priorität eingeräumt hat, wurden auf diese Weise umgesetzt.
Diese Reformen haben zur landesweiten Einführung eines „Single-Window“-Systems geführt, um Handelsinspektionen, Deklarationen, Steuern und andere Verfahren zu vereinfachen. Dies erklärt zum Teil, warum sich China in der Weltbank-Rangliste „Ease of Doing Business“ von Platz 78 im Jahr 2017 auf Platz 48 im Jahr 2018 verbessert hat.
Außerdem gibt es Anzeichen dafür, dass Peking bereit ist, harte, aber notwendige Reformen durchzuführen, um Chinas Wirtschaft langfristig zu stützen. So hat die Regierung beispielsweise mit ihrer Geldpolitik Zurückhaltung geübt und die finanziellen Risiken durch Schuldenabbau verringert.
Diese schwierige Entscheidung ist einer der Gründe, warum sich Chinas Wirtschaft verlangsamt, aber Peking scheint bereit zu sein, dies zu akzeptieren, solange die Wirtschaft keine „harte Landung“ erlebt.
Um sicherzustellen, dass es nicht zu einer „harten Landung“ kommt, ist Peking aktiver bei der Umsetzung der Fiskalpolitik anstelle von weitreichenden Konjunkturmaßnahmen.
Anlässlich der jährlichen „Zwei Sitzungen“ im März kündigte Premier Li Keqiang beispielsweise Steuersenkungen für Unternehmen in Höhe von 298 Milliarden US-Dollar an.
Der Staat übt seit 2013 wieder Kontrolle aus
Auch wenn es seit 2013 in einigen Bereichen Fortschritte gegeben hat, scheint der Staat in anderen Bereichen zu versuchen, die Kontrolle auf Kosten des Marktes wieder zu übernehmen. Es gibt daher Fragen zu Pekings Engagement für marktwirtschaftliche Reformen.
Es gibt sogar Spekulationen, dass Peking mit der derzeitigen Mischung aus Staat und Markt zufrieden ist und sich statt auf weitere Reformen eher darauf konzentriert, das „chinesische Modell“ durch politische Maßnahmen wie die Belt and Road Initiative (BRI) zu exportieren.
Die Winterausgabe 2019 des „China Dashboard“, das die auf dem Dritten Plenum 2013 beschlossenen Reformziele verfolgt, zeigt, dass die Reformen in acht von zehn Bereichen nicht vorankommen.
Einer der Bereiche, in denen die Reformen „zurückfallen“, ist die Reform staatlicher Unternehmen (SOE), wobei die Rolle staatlicher Unternehmen bei der Ressourcenallokation zunimmt, während die Rolle des Privatsektors zurückgeht. Einer der Gründe dafür ist, dass staatliche Unternehmen einen bevorzugten Zugang zu Krediten genießen als der Privatsektor.
Obwohl die Deleveraging-Kampagne der Regierung die finanziellen Risiken verringert hat, hat sie den Privatsektor stärker getroffen als den staatlichen Sektor. Und das, obwohl der Privatsektor im Durchschnitt dreimal effizienter ist als der staatliche Sektor und fast zwei Drittel zum Wachstum des chinesischen BIP beiträgt.
In Bezug auf ausländische Direktinvestitionen wird behauptet, dass trotz der Lockerung der Beschränkungen durch die Einführung der neuen Negativliste immer noch ungleiche Wettbewerbsbedingungen herrschen, da inländische Firmen gegenüber ausländischen Firmen bevorzugt werden.
Ein Beispiel dafür ist die Industriestrategie „Made in China 2025“, die im Mittelpunkt des Handelskriegs mit den USA steht.
Made in China 2025 ist eine 2015 herausgegebene Industriepolitik, die auf zehn High-Tech-Sektoren unter der Führung des chinesischen Staates abzielt.
Die USA argumentieren unter anderem, dass die Strategie einheimische Firmen bei der Vergabe von Subventionen begünstigt und ausländische Firmen zum Technologietransfer als Bedingung für den Marktzugang zwingt.
Daher argumentieren die USA auch, dass China gegen seine WTO-Verpflichtungen verstößt und dass das Land marktwirtschaftliche Reformen durchführen sollte, um gleiche Bedingungen zu schaffen.
Zur Verteidigung seines Entwicklungsmodells ist Peking sogar so weit gegangen, WTO-Reformen zu fordern, die „die Entwicklungsmodelle der Mitglieder respektieren“, was China mehr Spielraum bei der Umsetzung staatsfeindlicher und protektionistischer Maßnahmen gewähren würde.
In letzter Zeit gab es jedoch Anzeichen dafür, dass Peking bereit ist, Kompromisse einzugehen und auf die Bedenken Washingtons einzugehen.
Im März verabschiedete der Nationale Volkskongress Chinas beispielsweise ein neues Gesetz über ausländische Investitionen. Dieses Gesetz zielt darauf ab, auf häufige Beschwerden ausländischer Unternehmen einzugehen, indem es beispielsweise erzwungene Technologietransfers ausdrücklich verbietet.
Kritiker sagen jedoch, dass viele der Bestimmungen in diesem Dokument noch recht allgemein gehalten sind und das Gesetz selbst erst am 1. Januar 2020 in Kraft treten wird.
‚Feeling the stones‘: Was von Chinas Reformen zu halten ist
Seit 2013 ist der Fortschritt der Reformen gemischt. Einerseits hat China in einigen Bereichen deutliche Fortschritte gemacht, etwa bei der Verbesserung des Geschäftsumfelds und der Öffnung einiger neuer Sektoren für ausländische Investitionen.
Andererseits hat sich der Staat jedoch wieder durchgesetzt, anstatt dem Markt die entscheidende Rolle zu überlassen. Xi hat beispielsweise gefordert, dass staatliche Unternehmen größer, stärker und effizienter werden sollen, während die Kommunistische Partei in den letzten Jahren ihre Präsenz sowohl in staatlichen als auch in privaten Unternehmen erhöht hat.
Angesichts der gemischten Bilanz von Chinas Wirtschaftsreformen seit Xis Machtübernahme ist noch nicht klar, ob es sich bei der staatsfeindlichen Wende um einen grundlegenden Richtungswechsel handelt oder um eine vorübergehende Phase der Vorsicht und des „Abtastens“, bevor die Reformen wieder an Fahrt gewinnen.
Was in Chinas Reformprozess als Nächstes ansteht und wie sich die jüngsten Ereignisse auf Chinas Entwicklung auswirken, wird erst mit der Zeit klarer werden, zumal das Land von den USA unter Druck gesetzt wird, marktwirtschaftliche Strukturreformen durchzuführen.
Allerdings ist China trotz des Drucks von außen, bestimmte Reformen durchzuführen – oder gerade deswegen – entschlossen, seinen eigenen Reformweg zu finden und zu verfolgen, so wie es das in der Vergangenheit getan hat. Wie Xi am 40. Jahrestag der „Reform und Öffnung“ sagte: „Niemand ist in der Lage, dem chinesischen Volk vorzuschreiben, was getan werden sollte und was nicht“.
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